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«Wir bauen eine 100% erneuerbare Schweiz»

Das Stromgesetz ist eine komplexe Vorlage. Wie bei einem Puzzle greifen verschiedene Teile ineinander. Zusammengefügt entwirft das Gesetzespaket ein Bild, wie die Zukunft der Schweizer Energieversorgung mit erneuerbaren Energien funktioniert. E&U hat fünf Expertinnen und Experten und einem SES-Mitglied sieben Fragen zum Stromgesetz gestellt – und als Collage zusammengestellt.

Konzeption:
Markus Unterfinger
Léonore Hält

Leonore Hälg

Leiterin Erneuerbare Energien und Klima der SES

Mit dem Engagement für die Energiewende verbinde ich mein Interesse an Politik, mein Flair für Technik und meinen Drang, die Welt ein Stückchen besser zu machen.

Noah Heynen

Noah Heynen

CEO und CO-Gründer der Helion Energy AG

Wir bauen eine 100% erneuerbare Schweiz – kostengünstig, dezentral und smart. Das ist meine Überzeugung.

Jörg Stöcklin

Jörg Stöcklin

Emeritierter Professor für Botanik der Universität Basel, Mitglied der Grünen/BS

Ich bin AKW-Gegner seit der Volksbewegung gegen Kaiseraugst. Als Energiepolitiker engagiere ich mich für Erneuerbare, Einsparen und Effizienz. Als Biologe setze ich mich seit über 30 Jahren für Naturschutz und Biodiversität ein, besonders in den Alpen.

Martina Munz

Martina Munz

Agronomin ETH und Nationalrätin SP/SH

Biodiversitätskrise und Klimakrise sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Der Zeitgeist setzt auf unkontrollierten Ausbau der erneuerbaren Energien. Es geht auch anders. Dafür setze ich mich ein.

Pedro Lenz

Pedro Lenz

Schriftsteller und langjähriges Mitglied der SES

Für die Energieversorgung wünsche ich mir den unbedingten Willen zur Energiewende. Auch wenn dies im Einzelfall bedeutet, dass Anlagen zur Erzeugung von erneuerbarer Energie mit dem Landschaftsschutz kollidieren können.

Tony Patt

Tony Patt

Professor für Klimaschutz und -anpassung, ETH Zürich

Meine Leidenschaft ist die Schönheit des Winters und Tage mit Wintersport. Der Wunsch, diese für künftige Generationen zu erhalten, hat mich dazu gebracht, mich für den Klimaschutz zu engagieren.


1. Wieso ist das Stromgesetz aus Umweltsicht so wichtig?
Martina Munz

Martina Munz

Der geplante massive Ausbau von Solarenergie auf Infrastrukturen ermöglicht die Dekarbonisierung und den Ausstieg aus der lebensfeindlichen Atomenergie. Das belastet weder Umwelt noch Landschaft. Zudem fördern die Effizienzmassnahmen einen ressourcenschonenden Umgang mit Energie. Die Ganzheitlichkeit wird aber durch Abstriche beim Natur- und Landschaftsschutz geschmälert. Doch wenigstens sind die ökologisch wertvollsten Gebiete weiterhin geschützt und es existiert kein genereller Vorrang für Erneuerbare wie in Deutschland oder anderen EU-Ländern.

Tony Patt

Tony Patt

Zum ersten Mal haben wir ein Ziel für die Stromerzeugung, das im Einklang mit der notwendigen Dekarbonisierung von Verkehr und Heizung steht, die derzeit fossile Brennstoffe verbrennen. Das ist enorm wichtig und geht auf jeden Fall in die richtige Richtung.  

Jörg Stöcklin

Jörg Stöcklin

Das Stromgesetz ist nah am Optimum zwischen Klima- und Energiepolitik und dem Naturschutz. Entscheidend wird aber sein, dass Stromsicherheit nicht als Stromautarkie verabsolutiert wird und ein Stromabkommen mit der EU realisiert werden kann. Radikale Landschaftsschützer sollten sich von der Behauptung verabschieden, dass die Alpen mit Solarpanels zugepflastert werden. Die Biodiversität im Berggebiet wird durch den Klimawandel und v. a. durch landwirtschaftliche Nutzungsänderungen beeinträchtigt. Der geplante Solarausbau in den Alpen ist mit 5 TWh bescheiden, es braucht dafür ca. 30 km2 Fläche, wenig mehr als 0,5% der Alpflächen in der Schweiz, und weniger als der jährliche Zuwachs der Waldfläche im Alpenraum (41 km2 ).

Noah Heynen

Noah Heynen

Eine umweltfreundliche Energieversorgung ist zu 100% erneuerbar. Das Stromgesetz regelt jedoch weit mehr als nur den Zubau erneuerbarer Energien. Es schafft Grundlagen für viel Innovation und mehr Markt. Und es ermöglicht eine Demokratisierung der Energieversorgung, weil nicht ein paar wenige Grosskraftwerke für die Versorgungssicherheit besorgt sind, sondern neu Hundertausende von Kleinkraftwerken im Besitz von uns allen.  

Léonore Hält

Leonore Hälg

Umweltschutz heisst, die Überhitzung unseres Planeten zu bekämpfen und die Biodiversität zu erhalten. Den Klimawandel verhindern wir mit einer nachhaltigen Energienutzung und emissionsarmen Technologien. Das Stromgesetz bringt zentrale Verbesserungen in beiden Bereichen, indem erneuerbare Energien den Energiesektor dekarbonisieren – unter Berücksichtigung des Atomausstiegs – und dieser Ausbau zu 80% auf bebauter Infrastruktur stattfindet. Energiesparmassnahmen bringen dazu eine Reduktion unseres Energieverbrauchs. Um die Biodiversität nicht zu belasten, klärt das Stromgesetz, wo der Ausbau stattfinden soll und wo Naturschutz Vorrang hat, was heute leider häufig unklar ist und zu viel Zeitverlust führt.  

Pedro Lenz

Pedro Lenz

Ich bin kein Ingenieur, aber allein der Weg, der zum neuen Stromgesetz geführt hat, weist meiner Ansicht nach in die richtige Richtung. Wichtig ist nun, dass die konkrete Ausgestaltung so geschieht, dass sie von der Bevölkerungsmehrheit toleriert wird.

2. Sind Erneuerbare und Biodiversität im Widerspruch oder im Einklang?
Martina Munz

Martina Munz

Das Stromgesetz priorisiert die Energieproduktion gegenüber dem Natur- und Landschaftsschutz in spezifischen Eignungsgebieten und bei 16 Wasserkraftprojekten. Allerdings werden über 80% des Zubaus vor allem mit Solarenergie auf bestehender Infrastruktur wie Dächern, Fassaden und Parkflächen realisiert. Das ist ökologisch sinnvoll und verringert mittelfristig den Druck für zusätzliche Wasserkraftwerke.

Tony Patt

Tony Patt

Im Einklang. Die zwei grössten Bedrohungen für die Biodiversität sind der Klimawandel und die Abholzung. Oberste Priorität hat also der Aufbau von genügend erneuerbaren Energien, um die Nutzung fossiler Energie zu beenden, und auf Bioenergie verzichten zu können. Mehr Solar- und Windenergie und weniger neue Wasserkraftwerke sind ein Gewinn für die Biodiversität.

Jörg Stöcklin

Jörg Stöcklin

Einklang ist ein grosses Wort. Das neue Stromgesetz ist ein breit abgestützter Kompromiss mit guten Rahmenbedingungen für die dringend notwendige Energiewende. Es gibt einige Einschränkungen im Bereich des Gewässer- und Biotopschutzes, die nicht nötig gewesen wären. Trotzdem: Das Referendum gefährdet die Klimaziele und ist Wasser auf die Mühlen der AKW-Befürworter.

3. Gewässerschutz versus Wasserkraft – wo zieht das Gesetz die Grenze?
Noah Heynen

Noah Heynen

Die Energiewende lebt von der Vielfalt. Die 15 Wasserkraftprojekte, die am runden Tisch ausgehandelt wurden, plus das Kraftwerk Chlus machen Sinn, weil sie die Versorgungssicherheit im Winter stärken. Mehr ist nicht vorgesehen und wirtschaftlich nicht sinnvoll.

Jörg Stöcklin

Jörg Stöcklin

Die Wasserkraft spielt bereits eine herausragende Rolle in der Schweiz, ist aber weitgehend ausgereizt. Ein weiterer Ausbau sollte nur dort erfolgen, wo er umweltverträglich ist, und sich auf Projekte beschränken, die der runde Tisch befürwortete. Die wichtigste Errungenschaft des Gesetzes ist, dass ein Aufweichen der Restwassermengen verhindert werden konnte.

Martina Munz

Martina Munz

Vom Schweizer Wasserkraftpotenzial sind 95% bereits genutzt. Kein Lebensraum ist so bedroht wie die noch verbleibenden Feucht- und Nassstandorte. Neue Stauseen in bisher unberührten Gebieten sind deshalb abzulehnen. Der Naturschutz musste Kröten schlucken, weil Gletschervorfelder und Restwasserstrecken in Biotopen nicht mehr zwingend geschützt sind. Doch durch die massive Förderung der ökologischen Solarenergie auf Infrastruktur wird mittelfristig der Druck auf die Natur verringert.

4. Wie beurteilen Sie die Effizienzmassnahmen?
Pedro Lenz

Pedro Lenz

Am umweltfreundlichsten ist die eingesparte Kilowattstunde. Energieversorger werden nun zum Sparen verpflichtet und müssen nicht nur Strom, sondern auch Energiesparpläne und Effizienzmassnahmen verkaufen. Das gefällt mir.

Jörg Stöcklin

Jörg Stöcklin

Gut, dass der Stromverschwendung jetzt Einhalt geboten wird und erstmals Vorgaben für Effizienzmassnahmen gesetzlich geregelt werden. Zwischen dem theoretischen Einsparpotenzial und praktischer Realisierbarkeit besteht allerdings ein grosser Widerspruch. Effizienzmassnahmen werden Zeit und verstärkte Anstrengungen benötigen.

Tony Patt

Tony Patt

Effizienzmassnahmen sind ziemlich irrelevant. Die wichtigsten Effizienzgewinne werden durch die Elektrifizierung von Heizung und Verkehr erzielt und das müssen wir tun, um die Dekarbonisierung zu erreichen. Es ist viel wichtiger, welche Energie wir nutzen – und dass keine davon fossil ist –, als wie viel wir davon nutzen.

5. Können so die Ausbauziele bis 2035 erreicht werden?
Léonore Hält

Leonore Hälg

Das Gesetz enthält gute und effektive Massnahmen seitens der Vergütung, die die finanziellen Risiken von neuen erneuerbaren Stromproduktionsanlagen minimieren und so den Ausbau der Solarenergie auf bestehenden Infrastrukturen vorantreiben werden. So wird es für alle interessant, in die Energiewende zu investieren – ob Hauseigentümerin, KMU oder Grossunternehmen.

Tony Patt

Tony Patt

Nein. Ich glaube, wir werden die Ziele für den Ausbau der PV nur erreichen, wenn wir die Installation von Photovoltaik auf allen geeigneten Gebäuden - bestehenden und neuen - als Pflicht vorschreiben oder die Entwicklung freistehender Anlagen auf derzeit landwirtschaftlich genutzten Flächen wirklich erleichtern. Die meisten anderen Länder erzeugen weit mehr PV-Strom aus Freiflächenanlagen als auf Gebäuden.

Noah Heynen

Noah Heynen

Ja. Das Gesetz regelt viel sehr gut. Und es setzt nicht nur ambitionierte Ziele, sondern stellt auch einen breiten Instrumentenmix zur Verfügung. Dazu gehören die gleitende Marktprämie, die Abnahmevergütung mit einem Mindestpreis oder die Möglichkeit, lokale Elektrizitätsgemeinschaften zu gründen.

6. Was ist der «Game-Changer»?
Martina Munz

Martina Munz

Energie wird nicht mehr in wenigen Grosskraftwerken, sondern dezentral in der Nähe der Verbraucherinnen und Verbraucher produziert und gespeichert. Dabei steht die günstige Solarenergie im Fokus. Sind die Investitionen einmal getätigt, scheint die Sonne gratis. Das macht uns unabhängig von Importen.

Léonore Hält

Leonore Hälg

Die Mindestvergütung für kleine und mittlere PV-Anlagen auf Dächern ist für mich eine Herzensangelegenheit und wird die Erschliessung des riesigen Solarpotenzials auf Gebäuden vorantreiben. Diese Mindestvergütung stellt sicher, dass eine Solaranlage kein finanzielles Risiko für die Eigentümerinnen und Eigentümer darstellt. Dadurch wird es für alle interessant, das eigene Dach für die Energiegewinnung zu nutzen.

Noah Heynen

Noah Heynen

Einerseits die Einführung lokaler Elektrizitätsgemeinschaften, weil sie Produktion und Verbrauch räumlich und zeitlich näher zusammenführen. Damit wird die Energieversorgung demokratisiert und das Stromnetz entlastet und stabilisiert. «Weniger Kupfer, mehr Köpfchen» wird Realität. Andererseits die Gleichstellung von Batterien mit Pumpspeichern. Mit der Netzentgeltbefreiung schaffen wir Grundlagen für eine system-, markt- und klimadienliche Integration von Speicherkapazitäten mit der doppelten Leistung all unserer Pumpspeicher.

7. Ist der ökologische Fussabdruck der Schweiz damit im Lot?
Pedro Lenz

Pedro Lenz

Ich glaube, es gibt nach wie vor viel zu tun. Persönlich halte ich den Grundsatz richtig, noch stärker ökologische Verbesserungen zu fördern und unökologisches Verhalten zu besteuern, für richtig.

Léonore Hält

Leonore Hälg

Neben der Elektrifizierung der Mobilität und der Wärmegewinnung brauchen wir vor allem einen nachhaltigeren Konsum und die Senkung des Ressourcenverschleisses bzw. das Etablieren von Ressourcenkreisläufen. Auch bei den grauen Emissionen und im Bereich Luftverkehr braucht es schleunigst Massnahmen.

Tony Patt

Tony Patt

Drei Viertel unseres ökologischen Fussabdrucks entfallen auf konsumbasierte CO2- Emissionen. Wir müssen inländische Emissionen beseitigen und unsere Handelspartner dabei unterstützen, das Gleiche zu tun.